Dienstag, 18. Oktober 2011

Der Alltag

Chinagong als "Glöckchen" in der Heiligen Messe. Mächtig gewaltig!
Ich möchte diesmal etwas mehr zu meiner Arbeit sowie meinem Alltag schreiben. Dabei muss ich mich sehr bemühen nur Dinge zu sagen, die nicht unter Datenschutz stehen. Denn die aidskranken oder HIV-positiven Menschen hier in Taiwan unterliegen einer ähnliche Diskriminierung wie damals vor 2000 Jahren die Aussätzigen in Israel. Man muss sich das so vorstellen: Ein Neugeborener hat einen kleinen Tumor am Hals, weil die Mutter schwer drogenabhängig ist. Beide sind HIV-positiv. Da die Ärzte das wissen, verweigern sie die eigentlich einfache Operation die nötig wäre den Tumor zu entfernen. Nun liegt der mittlerweile ca. 4 Monate Alte fast gelähmt mit verkrümmter Wirbelsäule in seinem Kinderbett und weint und schluchzt die ganze Zeit, ringt um Atem oder schläft.
Ein anderes Beispiel: Ein erwachsener Aidskranker soll geröntgt werden. Natürlich weiß jedes medizinisch gebildete Personal, dass sich der HI-Virus nur über Blutkontakt und Körperflüssigkeiten (Speichel ausgenommen) übertragen kann. Dennoch traut sich keiner in dem Krankenhaus den Kranken auch nur zu berühren! Unser eigenes Personal musste kommen um ihn in die Röntgenposition zu bringen!
Letztes Beispiel: Ein kleiner Junge (7 Jahre) kommt hier in die 1. Klasse. Die Lehrer erfahren aus seinen Unterlagen das er aus Harmony Home (meinem Projekt) kommt. Sie wissen das das irgendwas mit Aids zu tun hat und was machen sie? Sie schmeißen den Jungen sofort raus aus der Schule!
Aus Angst vor den Eltern der Mitschüler (und aus eigener Angst denke ich)! Da haben wir natürlich Druck gemacht, denn der Junge hat ein gesetzliches Recht auf Bildung. Nun sitzt er die meiste Zeit in einem menschenleeren Aufenthaltsraum und muss alleine irgendwelche Aufgaben lösen. Nach der Schule wird er von einem Lehrer persönlich bis zur Pforte begleitet, wo ich ihn dann umarme und aufs Fahrrad setze. Das ist Diskriminierung pur! Natürlich versteht das der Kleine nicht und ist dementsprechend verwirrt und gereizt den ganzen Tag.
Zum Glück hat meine Chefin jede Menge Einfallsreichtum um den Betroffenen irgendwie zu helfen. Ich muss da immer staunen. Seit 2 Tagen darf der Kleine nun auf einmal regulär am Unterricht teilnehmen. Warum? Das weiß keiner so ganz genau... ;)

Nun zu meinem Alltag. Ich lebe immernoch in der recht geräumigen Wohnung vom Anfang. Zusammen mit einem sehr stillen 15-jährigen Koch-Azubi der auch Kung Fu macht (also mir sehr ähnlich ist), und 1 - 2 kleinen Kindern (6-10 Jahre). Um 5h muss ich aufstehen um das Frühstück für die beiden zu zubereiten. Da gibt es entweder Rührei mit Reis, eine Herzhafte chinesische Tütennudeludelsuppe oder (ganz europäisch) einfach Sandwich.
Einer von beiden bekommt früh und Abend seinen Medikamentencocktail aus mind. 3 verschiedenen Bestandteilen verabreicht, um die HI-Virusmenge im Blut so gering wie möglich zu halten und den Ausbruch von Aids (allgemeine Immunschwäche) so weit wie möglich nach hinten zu verschieben.
Die kleinen Kerlchen aufzuwecken dauert ganze 10min oder länger. Denn natürlich wollen die nicht aufstehen und zur Schule gehen. Da bedarf es schon jeder Menge Geduld und Einfallsreichtum meinerseits. Leider habe ich beides (noch) nicht, haha. Aber ich arbeite dran. ;)
Nachdem beide gegen 7.30h in der Schule sind, muss ich die Wohnung putzen. Ich hätte nie gedacht, dass Kinder derartige Schmutz-Produzenten sind! Aber der 16jährige auch! Letztens hat er mit unseren Daunenkissen als Zielscheibe seine Wurfmesser-Technik verbessert als ich nicht da war! Ein unglaubliches Federmeer war das Ergebnis. Der halbkaputte Mini-Staubsauger ohne Beutel (!) hatte da ganz schön damit zu kämpfen.
Danach habe ich Zeit bis kurz vor 12 Uhr. Hier treffe ich manchmal meinen taiwanesischen Tandempartner, der Dank sei Gott sehr gut Deutsch, Englisch und Chinesisch kann, gehe einkaufen oder mache Sport.
Danach hole ich den 7j. von der Schule ab. Das klingt einfach, bedeutet aber, dass ich irgendwie versuchen muss ihn davon zu überzeugen auf meinen (wirklich bequem gepolsterten!) Gepäckträger zu steigen. Er will irgendwie immer mit Taxi fahren. Natürlich geht das nicht. Durch meine noch immer äußerst schlechten Sprachkenntnisse hört sich unsere fast tägliche Konversation ungefähr so an:

Junge(J): (schreit) Ich will nicht mit dem Fahrrad fahren!! Ich will ein Taxi!
Ich(I): Taxi nix Geld. Fahrrad!
J: Taxi! Taxi! Taxi!
I: Du haben Geld Taxi?
J: Nein! Du sollst das Taxi bezahlen!
I: Aber Fahrrad dort!
J: (schreit nur)
I: (motivierend) Du Supermarkt Essen kaufen! Wir zusammen!
J: Hab keinen Hunger!
I: Trinken kaufen!
J: Hab kein Durst!
I: Was willst kaufen?
J: Taxi!!!
[...]
Der Junge mag keine Fotos, deshalb schaut er weg. ;)

Tja, was ich dann mache? Das selbe System anwenden, was auch die Tanten auf Arbeit tun. Langsam bis 3 zählen, und wenn er dann nicht mitkommt ihn anbrüllen. Dann kommt er. Schreiend. Ich mag das gar nicht, aber leider sind die Kinder hier damit groß geworden und reagieren fast nur darauf. Wenigstens schlage ich sie nicht mit den Kleiderbügeln wie es andere tun.
Ich fahre dann irgendwann mit dem Jungen (plus Ranzen) auf dem Gepäckträger, meinem (immer schweren) Rucksack am Lenker und einem 2. Fahrrad in einer Hand (was nur rückzu gebraucht wird) zum großen Haus.
Hier gibts dann Mittag. Reis ist immer dabei und die Grundlage. Dazu kommt viel zu weich gekochtes Gemüse, manchmal Meeresfrüchte, immer tollen Fisch und manchmal etwas Fleisch. Allerdings meist die Teile, die wir in Europa eigentlich nur für Suppen oder gar nicht verwenden würden. Ich habe letztens z.B. Hahnenkamm und Hühnerfüße (ja, die Füße!) gegessen ... mir wird jetzt noch schummerig. War halt total glibberig, aber ausreichend mit Knoblauch gewürzt, sodass es auch schmeckte. Nur die vielen Knöchelchen und die Krallen an den Füßen störten irgendwie beim Essen. lol.
Nun kommen 2 entspannte Stunden, da hier im großen Haus nur die Windelkinder da sind und die meisten von denen gerade Mittagsschlaf halten. Dann putze ich meist irgendwas oder ruhe mich auch mal kurz mit aus.
Spätestens ab 15.30 Uhr beginnt dann die anstrengende Zeit des Tages. Denn dann sind nicht nur die Kleinen wieder wach, sondern die ganzen älteren Kinder (bis ca. 12 Jahre) kommen aus der Schule zurück. Wir sind dann ca. 20 - 40 Kinder (keine Ahnung wo die fehlenden immer sind) und ca. 4 - 8 Betreuer. Von diesen sind die meisten mehr oder weniger drogenabhängig, selber aidskrank oder Immigrationsfälle. Letzteres bedeutet sie werden nur in Taiwan geduldet, wenn sie in einem sozialen Projekt leben und mitarbeiten. Das Amt kontrolliert monatlich ob sie noch da sind. Letztens sagte mir eine von denen, wenn sie in ihr Land zurückkehren würde (Inseln in der Nähe, die ich ihr zu liebe nicht benennen will), würde sie und ihre Familie in große Schwierigkeiten geraten. Sie hatte wohl auch keine so saubere Vergangenheit dort...

Ungefähr 4 Tage altes Neugeborenes einer netten, aber psychisch kranken Rotlichtarbeiterin.
Jetzt tue ich Windeln wechseln, den Kleinkindern ihr Fläschchen geben (immer Pulvermilch, weil wird nicht so schnell schlecht), den Größeren beim Hausaufgabenmachen zuschauen und danach mit ihnen herumtollen und generell aufpassen, dass sich die Kinder nicht attackieren. Da sie selber manchmal von den Tanten geschlagen werden, herrscht hier leider eine ziemlich hohe Gewaltbereitschaft unter den Kleinen. Und in dem täglichen Chaos um diese Uhrzeit, lässt es sich schlecht auf alle gleichzeitig aufpassen. Da kommt es leider schon mal vor das jemand verletzt wird und etwas blutet. Darauf sind dann alle Betreuer äußerst allergisch. Denn Kinder sind sich natürlich der Gefahr der HIV-Übertragung überhaupt nicht bewusst.
Allerdings wird hier schon sehr auf Sauberkeit geachtet finde ich. Der Fußboden wird mind. 3x täglich auf Knien mit der Hand gewischt, ständig wird gesaugt und gefegt und überall findet man Hand-Desinfektionsmittel.
Hin und wieder bade ich dann auch mal ein Kind wenn dieses das zulässt. Wenn das Kind gerade nicht will, dann nützt auch kein Anbrüllen und nichts. Es wehrt sich dann mit Händen und Füßen und bläkt in einer derartigen Lautstärke, dass ich verzweifelt aufgeben und diesen Job den Tanten überlassen muss. Obwohl ich ja doch so gerne mithelfen möchte!
Nach dem Abendbrot gebe ich einem kleinen halbgelähmten Jungen (ca. 6 Jahre) etwas Physiotherapie. Er kann sich zwar bewegen, aber immer nur sehr langsam und seine Füße sind steif. Natürlich mag er das Dehnen nicht, deshalb benutze ich dabei manchmal seine Füße wie ein Mikrophon und singe ihm irgendwelche Schlager vor, die er sowieso nicht versteht. Richtig gut kommt hierbei z.B. der Refrain von "The Boxer" von Simon und Garfunkel an. "Lei le lei!! *Dufffff* Leileleileileileilei..." =)

Gegen 19.30 Uhr fahre ich dann mit einem 10jährigen und meinem Kleinen auf dem Gepäckträger wieder die ca. 20min zu meiner Wohnung. Hier angekommen wird erstmal lange Fange gespielt, wobei der Gefangene ersteinmal so richtig durchgekitzelt wird. Das ist ganz schön anstrengend, aber sehr lustig. ;)
Die letzte große Herausforderung des Tages ist die Kinder dann gegen 21 Uhr zum Schlafen zu bringen. Das kann sich bis zu einer Stunde aus Spaß, ernsten Worten, Drohungen und Schimpfen hinziehen.

Das ist mein Tagesablauf. Allerdings ändert sich hier sowieso vieles täglich, deshalb ist immer ein hohes Maß an Flexibilität und Offenheit gefragt. Generell macht mir die Arbeit eigentlich schon Spaß, bringt mich aber auch beinah täglich an meine absoluten Geduldsgrenzen. Aber das ist ein guter Teil von genau der Herausforderung, die ich gesucht habe. Deshalb versuche ich damit zufrieden zu sein. Wenn ich jetzt noch die Sprache sprechen könnte, geduldiger wäre, mehr Freizeit hätte und die Kinder lieber wären, könnte ich schon fast sagen ich bin zufrieden. Aber dafür habe ich ja noch beinah ein ganzes Jahr Zeit! ;o)