Sonntag, 25. August 2013

Rückkehr für 5 Wochen


Bei der Landung, 6.8.2013
Gott sei Dank endlich wieder zurück in Taiwan – dieser Satz brannte mir im Herzen bei der lang ersehnten Landung vor fast 3 Wochen. Und er hat sich eigentlich täglich wiederholt. Man kann sich kaum die Freude vorstellen, endlich wieder bei meiner hiesigen „Familie“ zu sein: den Tanten, den Kindern, den Patienten, den schweren Fällen und den vielen Menschen, die mir in dem Jahr meines Einsatzes hier wichtig geworden sind. Leider sind einige verschollen, untergetaucht, wieder auf die schiefe Bahn gekommen, oder wieder zurück im Gefängnis. Das ist traurig, aber das Leben und die Drogen (vor allem Heroin) setzen den Leuten hier schon arg zu.
Eine meiner Lieblingstanten war damals wirklich schon weit gekommen auf dem Weg des Entzugs. Doch vor kurzem kam ihr Mann nach einer langjährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis, besuchte sie, beide fielen wieder zurück in die Hände der Droge, sie wurden wenig später auf der Straße aufgegriffen, untersucht und nun geht’s wieder für viele Jahre zurück ins Gefängnis. Ihr kleines 3-jähriges Kind kommt zu den Großeltern, so heißt es. Aber vermutlich ist es sicher bald wieder bei uns.

Aber am Anfang möchte ich kurz meine Ankunft beschreiben, denn die Reaktion der Kinder hier war – tja, wie ich finde sehr interessant. Man muss sich mal vorstellen, ein ganzes Jahr habe ich fast jeden Tag für sie gesorgt, für einige ganz besonders, sie zur Schule gebracht, abgeholt, mit ihnen gespielt, gegessen, ihnen Medizin gegeben, sie versucht zu erziehen und so weiter. Sprich da war eine echte Beziehung zwischen mir und ihnen entstanden. Nun, genau 1 Jahr darauf komme ich wieder zurück, sehe sie, freue mich riesig, rufe sie beim Namen, und sie --- sie, tja, sie schauen auf mich mit einem befremdlich emotionslosen Blick, wie leer, fast mit einem Hauch von Furcht, Furcht vor etwas Unbekanntem, oder gar Ungekannten. Ich sprach sie an, doch sie blickten mich nur an, unschlüssig, was nun zu tun sei. (Ich spreche hier von den 8 – 12 Jährigen, für die ich am häufigsten sorgte.) Meine Theorie hierzu ist, dass diese Kinder schon viele Wechsel von Vertrauens- und Bezugspersonen im Leben durchgemacht haben. Die Rückkehr einer solchen aber eher seltener erfahren haben und sie somit schwer emotional einordnen können. Es dauerte  fast 1-2 Tage, bis sie mich wieder in ihr Leben hineinließen, mich beim Namen nannten, auf meine Fragen eingingen und wieder Vertrauen fassten.
Erstaunlicher Weise habe ich das Gefühl, dass dieses Vertrauen jetzt sogar noch tiefer greift, als letztes Jahr. Denn sie kennen mich und sie wissen, auch ich kenne sie. Das macht es mir in vielen Dingen leichter als den vielen neuen Tanten, Patienten und den wenigen Freiwilligen hier, die uns hin und wieder besuchen.
Was mich bei meiner Ankunft allerdings wirklich sehr berührt hat, war ein kleiner Junge, der bei meiner Abreise damals zwar laufen, aber noch nicht sprechen konnte. Als er mich erblickte, rief er „Sī Tíng!“ (meinen chinesischen Namen), rannte auf mich zu und umarmte mich. Das war sehr süß. Obwohl er mich vorher nie beim Namen nennen konnte, wusste er ihn jetzt plötzlich dennoch!

Zur Feier des Tages in der Gaststätte

Gott sei Dank kann ich bis jetzt sagen, ist die Zeit hier wirklich reich ist an Gnaden, voller Segen von Gott, voller Wiedersehensfreude, ein reines Heimspiel!! Einfach wieder in alte Fußspuren stapfen, mitmachen, flexibel sein, den Tanten zuhören, Streit schlichten, Probleme lösen, die Menschen lieben. Das ist für mich eine echte Freude, die ich im letzten Jahr sehr vermisst habe.
Gleich am zweiten Tag sind wir mit dem halben Heim durchs ganze Land zu unseren Heimen im Süden gefahren. Ihr glaubt gar nicht, was das für eine große Freude war, meine lieben Koma-Patienten wieder zutreffen! Denn viele können nicht sprechen, aber manche können sich durchaus äußern! Da war einer, zusammengekrümmt auf seinem Bett, der magere Körper übersät mit Tattoos, ernährt über einen Schlauch, nur noch Haut und Knochen, die Augen weit eingefallen. Als ich seine verdrehten und bewegungslosen Hände nahm und zu ihm sprach, formte sein zahnloser Mund doch tatsächlich ein Lächeln! Und als ich ihm dann auch noch zum Vatertag gratulierte, zeigte er sogar so etwas wie ein Lachen! Das war sehr bewegend. (Der Vatertag ist hier im August, den die Zahl acht heißt auf Chinesisch „“, der 8.8. also „bābā“ –> klarer Fall von Papa-Tag!)

Natürlich haben meine lieben Kollegen die gleichen Erwartungen an mich, wie vor einem Jahr. Doch dass ich in dieser Zeit eine ganze Reihe von Fächern und Sprachen, aber kein Mandarin studiert habe, mussten sie doch schnell feststellen. Als wir mal wieder durchs ganze Land fuhren, bin ich an nur einem Tag mindestens 5x falsch gefahren, nur weil ich die großen Straßenschilder mit den vielen kleinen chinesischen Schriftzeichen nicht schnell genug auf der Autobahn entziffern konnte! Das war am Anfang zwar lustig, aber bald dann doch eher peinlich. Aber meine Mitfahrer haben es mit Humor genommen.
Ich muss dazu sagen, dass hier jedes Schild, Autobahnabzweig, oder –abfahrt nur 1x angeschrieben wird. Sprich man muss sich jedes Mal in Sekundenschnelle und bei über 100km/h Fahrt entscheiden, wo man eigentlich hin will. Praktisch ist, dass man hier sowohl links, als auch rechts überholen kann! Auch auf der Autobahn. Das hebt den Fahrspaß ungeheuer. ;o) Aber natürlich nur bei Schulterblick, Verkehrsbeobachtung, Gottes Schutzengeln und dem entsprechend hohem Verantwortungsgefühl für die teils HIV-positiven 20 Kinder (ein Drittel im Kofferraum) und 5 Erwachsenen, von denen 2 angeschnallt sind, versteht sich!!

Im Straßenverkehr
Dass aber auch diesmal besondere Situationen nicht zu kurz kommen dürfen, ist natürlich ganz selbstverständlich. So kommt es, dass ich mitten im Taifun, sprich Sturzregen, Sturm und Aquaplaning gleichzeitig, die Kinder durch die halbe Großstadt fahren muss, das Auto noch voll beladen mit von Buddhisten gespendeten Reissäcken (viele Buddhisten sind sehr spendenfreudig und hilfsbereit!), eigentlich (!) gefrorenem Geflügel und Fisch, die sich bei den hiesigen 33°C aufwärts langsam aber ständig selbst vom Eis befreien und riechbar wieder lebendig werden. Das erregt natürlich zunehmend die leidenden Gemüter meiner Mitfahrer, die nicht gerne ihre Füße in Auftauwasser getränkt sehen!
Ich muss dazu sagen, dass dieser Tag gerade ein großer Mondfeiertag ist und deshalb so viel gespendet wurde. Dass gleichzeitig der Kern eines Taifuns über die Insel fegt, sonst eigentlich fast keiner mehr außer Haus geht, alle öffentlichen Gebäude und Schulen geschlossen, sowie ein nationales Arbeitsverbot für diesen Tag ausgesprochen wurde, tangiert uns hier in Harmony Home eher nur peripher. Denn versorgt werden müssen unsere Patienten ja trotzdem und solange unsere alten Autos es noch packen gegen die Sturzbäche auf den steilen Straßen hier anzukommen, gibt es hier keinen Grund den Dienst am Nächsten einzustellen. Eine interessante, aber auch etwas kurzsichtige Sichtweise, wie ich finde. Doch auf Grund eurer Gebete und Gottes Segen kamen Auto, Menschen und Speisen dennoch irgendwann gut am vorgesehenen Platz an.

Blick aus unserem Fenster zur Taifun-Zeit.

Der jetzige Mond-Monat hier ist der sogenannte Geister-, oder auch Gespenster-Monat. Für die Menschen bedeutet das, dass dies der einzige Monat im Jahr ist, wo die Dämonen mal frei haben, um auf der Erde Urlaub zu machen und Unruhe zu stiften. Dementsprechend gibt es hier viele lodernde Brandopferkessel und Speiseopferaltäre vor den Häusern, Umzüge, Paraden und Knaller um diese Geister wieder zu vertreiben und sie freundlich zu stimmen. Einen der größten dieser Umzüge durfte ich mit ansehen. Das war eine äußerst seltsame Kombination aus traditionellem Glauben und Moderne! So wird der uralte Drachentanz (2 Tänzer im Kostüm eines Drachen) jetzt abwechselnd zu traditioneller Musik und dann zu Hip Hop oder Techno getanzt, klassische europäische  Meditations-Musik zu einem atemberaubenden Feuerwerk abgespielt, deutsche Märsche von taiwanesischen Schulkindern in holländischen Uniformen als Militärorchester marschierend dargeboten, gleich nachdem 2 junge Männer als allseits verehrte Götzen verkleidet, auf einem Auto Pogo an der Stange tanzen. Ein äußerst bizarres und befremdliches Bild.
Spannend war das öffentliche Verbrennen von ca. 3m großen Götzenfiguren, was diese wiederum „ruhig stellen“ soll, sowie von „Geisterbooten“, die als schwimmende fast Kleinwagen-große Papp-Tempelchen in den vom Taifun aufgewühlten Pazifik gesteuert werden und trotz des hohen Seegangs in Flammen aufgehen. Waghalsige Schwimmer begleiten sie dabei, ziehen sie weiter ins Meer und versuchen sie vor dem Umkippen zu bewahren. Was allerdings meist nur wenige Minuten lang gelang.

3 Wasser-Feuer-Tempel-Boote

Insgesamt hat sich hier viel und gleichzeitig wenig verändert. Einige neue Heime sind dazugekommen, alte geschlossen worden, einige wenige Kinder sind nach Amerika adoptiert worden, andere zu ihren Angehörigen gezogen und viele neue gekommen. Damals hatten wir durchschnittlich nur etwa 3-5 Neugeborene zwischen 0 und 5 Monaten. Jetzt sind es 20. Viel Personal hat Position und Heim gewechselt, Alte sind gegangen, Neue sind gekommen. Der physische, sowie psychische Status der Meisten hat sich verschlechtert, bei wenigen blieb er gleich. Eine liebe Kollegin, die damals noch kräftig und munter war und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, wirkt jetzt wie um 30 Jahre gealtert, von Drogen, Medizin und dem HI Virus aufgezehrt, ein Wrack ihrer selbst. Es bereitet trotz dem Schmerz das anzusehen eine innige Freude, gerade solchen Menschen in die Augen zu schauen, ihnen zuzuhören, ihnen Liebe und Mitgefühl zu schenken, sie zu umarmen und zu ermutigen!

Storchennest

Als wir ein 1 Monat altes Neugeborenes auf dem Motorroller zum Arzt brachten, fragte ich die (eigentlich) erfahrene Tante nach dessen Namen. Sie lachte und sagte, sie wisse ja nicht einmal, wer die Mutter sei, woher solle sie denn auch noch den Namen kennen?!  Es wurden einfach zu viele, sie könne sie nicht mehr unterscheiden!
Einen anderen Tag bekamen wir einen aufgeregten Anruf aus dem Krankenhaus. Die Geburt per Kaiserschnitt bei einer unserer Patientinnen sei  Gott sei Dank gut verlaufen, ähm, doch noch am gleichen Tag sei die Mutter einfach verschwunden! Sie hat ihre Sachen gepackt und ist untergetaucht. Jetzt haben die dort das Kind, aber keine Mutter dazu!
Meine Kollegen zuckten daraufhin nur resignierend die Schultern mit dem Zitat: „Offensichtlich ist der Mutter die Droge wichtiger als das Kind.“ Bis heute ist sie leider nicht mehr aufgetaucht. Lasst uns für sie beten!
Einige unserer Patienten spritzen sich auch noch während der Schwangerschaft Heroin. Sie sehen nicht, dass sie damit das Kind automatisch süchtig machen, es nach der Geburt einen eiskalten Entzug durchmachen muss und trotzdem das ganze Leben lang extrem suchtgefährdet sein wird. Lasst uns auch für sie beten!
Eines dieser „Heroin-Babys“ liegt gelähmt, mit Wachstumsstörungen, Asthma und ständigen Krämpfen häufiger in der Intensivstation als bei uns im Heim. Vorgestern stand sein Herz plötzlich still und es musste künstlich weiter am Leben gehalten werden. Die Tante die eigentlich auf es aufpassen sollte, war selber gerade im Rausch ihrer Droge. Gott sei Dank geschah dies im Krankenhaus, so konnte das Kleine sofort versorgt werden.

Unterwegs zum Arzt

Zurzeit versuche ich, wie unzählige Freiwillige vor mir, den Kindern ein klein wenig Englisch beizubringen. Da ich dies aber noch nie im Leben gemacht habe, gestaltet sich das als eine recht spannende und interessante Herausforderung. Das wir am Ende eigentlich eher am Spielen, als am Lernen sind, ist wohl meiner mangelnden Erfahrung, sowie der begrenzten Aufnahmebereitschaft meiner Schüler zuzuschreiben.
Bis jetzt konnte ich leider eine meiner früheren Aufgaben, meine Wohnung als Schlafstelle für die Kinder bereitzustellen, nicht wieder aufleben lassen. Hier leben jetzt einige Patienten, Freiwillige, Ex-Gefangene und andere Menschen, die unter unserem Schutz stehen und deshalb hier nicht näher beschrieben werden dürfen. Anstatt für Kinder nun halt auch für diese Menschen da zu sein ist trotzdem eine Freude.

Zum Abschluss eine kurze Begebenheit mitten im Berufsverkehr. Der 3-jährige DoāDoā sitzt neben mir auf der Handbremse. Als ich ihm beim Warten auf Grün einen Kuss auf die Stirn gebe, ruft er in empörter Erzieher-nachahmender Stimme: „Hey, du kannst doch nich einfach so mein‘ Kopf küssen! [drohend:] Du steigst gleich aus!!“ Ich daraufhin direkt: „Ok!“ und tu so, als wolle ich die Tür aufmachen, da ruft er erschreckt: „Nein! Nicht tun, nicht tun!“ Das war wirklich sehr niedlich.

Alltägliches Bild