Sonntag, 1. Juli 2012

Aus dem Leben

„Sèbàdí!“ hauchte sie und Tränen traten in ihre Augen als sie mich sah.
„Los, ich bring dich zur Notaufnahme!“ sagte ich. Ihre alten eingefallenen Augen reagierten nicht. So saß sie vor mir, schwach an das Gitter gelehnt, das den Kinder- vom Erwachsenenbereich trennt. Mit ihrem bleichen Gesicht und ihrem völlig von Aids ausgemergelten Körper sah sie dem Tod näher aus, als sonst.
Ein Kind hatte ihr beim Spielen mit einem großen, harten Spielzeug auf den Kopf geschlagen. Und nun wechselten sich Ohnmacht und Tränen bei ihr ab. Mit einem anderen Freiwilligen trugen wir sie vorsichtig die Treppe zum Schlafbereich hoch. Sie wollte partout nicht ins Krankenhaus, was ich nach alldem, was sie schon durchgemacht hatte, sehr wohl verstehen konnte.
Eine wirklich abstruse Situation. Die fast 70-jährige Frau liegt wie ein kleines Kind vor mir, schwach und hilflos, kämpft sich von einem Würgeanfall zum nächsten, während ringsherum der Trubel und das Leben des Waisenheimes unbehelligt weitergehen. Kinder spielen, schreien, rennen durcheinander. Auch die anderen Tanten nehmen gar keine Notiz von ihr. In meinem Herzen tobt ein Kampf aus dem Wunsch ihr zu helfen, sie zum Arzt zu bringen, und dem großen Respekt für sie und für ihre Entscheidung hier bleiben zu wollen, was sie auch immer wieder leise flüstert.
Da stotterte sie: „Warum hat mir Gott das angetan? Hab ich etwas falsch gemacht…?“ „Gott will nicht dass du leidest. Gott liebt dich!“ antwortete ich. „…Aber ich weiß ja gar nicht, was es da nach dem Sterben gibt!“ stieß sie heraus. „Wenn du an Jesus glaubst, Ihn liebst, Ihn um Vergebung deiner Sünden bittest und Ihm sagst, dass du gerne zu Ihm kommen möchtest, wirst du mit Ihm im Himmel sein!“ versuchte ich ihr mit meinem absolut brüchigen und schlechten Chinesisch zu erklären. „Wenn du das glaubst, brauchst du keine Angst mehr zu haben!“ fügte ich noch hinzu.
Da kamen 3 von den ältesten Kindern angelaufen und knieten sich zu ihr. Mit erstaunlich verständnisvollen Augen blickten sie auf sie herab. Aber auch ein wenig Furcht stand in ihren Gesichtern. Sie hatten schon viele Patienten in verschiedenen Stadien ihrer Krankheit gesehen. Das jemand am Boden lag, war nicht selten. „Sie wolle allein sein!“ flüsterte sie und so gingen wir, um nach den anderen Kindern zu sehen. Ich setzte mich später mit meiner kleinen Schale Reis in eine Ecke und begann still zu Jesus zu beten. Für sie. Das war vor ca. 2 Monaten. Schon wenige Tage danach hatte Gott ihr wieder Kraft geschenkt und heute dient sie immer noch dem Heim und den anderen Patienten. Dank sei Gott für dieses große Geschenk!


Nachts um halb elf klingelte mein Handy. Meine Chefin: „Du musst unbedingt mit dem Auto rüberkommen! Wir haben gerade einhundert (100!) Torten gespendet bekommen!“ Ich denke an die gut 200 Menschen, die wir versorgen müssen und frage spontan: „Hätte man uns nicht einfach Geld spenden können?“ Doch die Torten waren von einem Gala-Buffet übriggeblieben und viele waren noch völlig unberührt. Bevor wir also sämtliche Kühlschränke und Froster damit vollstopfen konnten, spielten sich Volksfest-ähnliche Szenen auf den Straßen vor uns ab. Wir gaben unseren Nachbarn, diese riefen ihre Nachbarn und Freunde an, und wer sonst noch so vorbei kam bekam auch einfach noch eine Torte in die Hand gedrückt. So kam es, dass an diesem Abend viele Menschen glücklich mit einem Karton unterm Arm nach Hause gingen. Im Übrigen hatte ich mir nach ca. 5 Tagen jegliche Sahnecreme übergegessen und so kommt es, dass sich auch heute noch Überreste von jenem Tag in meinem Froster befinden.

„Ich möchte einige Lebensmittel zu den Gefangenen in Abschiebehaft bringen!“ sagte meine Chefin und drückte mir ein Baby in den Arm: „Und das arme Kind hat seine Mutter dort schon ewig nicht mehr gesehen.“ Der ganze Kleinbus war vollgestopft mit Tütensuppen, Instantkaffee und ähnlichem. So fuhren wir stundenlang durch die engen Straßen von Taipei, nur der Himmelsrichtung statt einer Karte folgend. Nachdem wir unzählige Passanten nach dem Weg gefragt hatten, kamen wir tatsächlich irgendwann an. Warum meine Chefin Navigationsgeräte nicht mag, habe ich bis heute noch nicht herausgefunden.
Dort angekommen durften wir spannenderweise gerade daran teilnehmen, wie hier das thailändische Neujahr gefeiert wurde (erst kurz vor Ostern!). Männer und Frauen stehen sich gegenüber. Große Regenfässer sind vollgefüllt mit Wasser und überall liegen gefüllte Wasserbomben bereit. Nach einer feierlichen Rede, traditionellen Tänzen und dem symbolischen Füßewaschen des Gefängnisleiters und des Botschafters des besagten Landes durch einige Häftlinge, begann der Spaß! Alle stürmten wie wild aufeinander ein und begossen sich eimerweise mit Wasser! Denn je nasser, desto gesegneter, so erklärte man mir.
Zum Glück durfte ich diesem Segen entgehen, da ich in sicherer Entfernung stehend, selbst von den Feuerwehrschläuchen nicht mehr erreicht werden konnte! Natürlich war die junge Mutter überglücklich ihren Kleinen wohlauf zu sehen und in die Arme schließen zu können. Sie fragte mich immer wieder, wann sie denn endlich entlassen werden würde. Doch darauf konnte ich ihr leider keine Antwort geben. (Vor wenigen Wochen durfte sie nun endlich wohlbehalten mit ihrem Kind die Heimreise antreten.)
(aus Sicherheitsgründen kein Original)
Als wir dann später unsere Gaben auf die Zellen brachten, begann meine Chefin ihre Visitenkarten auszugeben, mit dem Kommentar: „Falls ihr mal Hilfe braucht, wenn ihr rauskommt!“ Denn helfen tut sie hier wirklich unglaublich vielen Menschen… Also verteilte auch ich ihre Karte. Da begannen mich die Gefangenen nach meiner Nummer zu fragen. Ich habe in dem Moment wirklich Mitleid mit ihnen gehabt und gedacht, falls die mich anrufen sollten kann ich ja immer noch sehen, ob ich überhaupt etwas für sie tun kann. Wenige Tage später standen dann plötzlich 3 arabisch ausschauende, kräftige Kerle vor meiner Tür. Meine Chefin meinte nur kurz, sie sind heute entlassen worden und haben keine Bleibe für die Nacht, ob sie nicht bei mir wohnen könnten? Ich muss dazu sagen, dass dieses Erscheinungsbild von bärtigen, dunkelbraunen, vom Leben gezeichneten Männern für uns Deutsche einfach sofort an die Bilder von Terroristen aus den Nachrichten erinnert. Ich musste tief schlucken bevor ich die Tür für sie öffnete.
Plötzlich erkannte ich, es ist eine Leichtigkeit Hilfe anzubieten, aber sie dann auch tatsächlich zu leisten ist eine ganz andere Sache. Dank sei Gott waren alle soweit sehr dankbar und freundlich und es gab keine weiteren Zwischenfälle mit ihnen.


Die knapp 600 Mädchen der 10. Klasse starrten mich mit großen Augen an. Selten sprechen hier Ausländer zu ihnen. Und noch seltener Menschen, die vor wenigen Jahren selber noch zur Schule gingen. Kurz zuvor hatte meine Chefin ihnen eins von unseren Aufklärungsvideos gezeigt, welches in Deutschland sicher erst ab 16 angesehen werden dürfte. Es erklärte, dass es das Normalste der Welt sei, schon im Teenager-Alter unzählige verschiedene Sexpartner zu haben. Man solle nur das Kondom benutzen und alles sei fein. Als ich dann endlich sprechen durfte, wurde ich sehr ernst und traurig. Und ich durfte ihnen sagen, dass das eben Gesehene nicht dem entspricht, wofür Mann und Frau geschaffen worden sind. Dass wir Männer uns dies zwar wünschen, Gottes Ordnung aber nicht. Ich habe ihnen gesagt, dass sie aufpassen sollen, dass sie uns Männern nicht so einfach vertrauen sollen. Weil die meisten nur Sex wollen und sich kaum Gedanken machen um die emotionale Bindung einer Frau dadurch an ihn. Kondome können kaputt gehen. Und wenn man sich mit dem HIV einmal infiziert hat, wird man damit leben und sterben. Es ist bis heute nicht heilbar.
Ich habe sie an die vielen Koma-Patienten erinnert, die im Endstadium von Aids bei uns liegen. Viele ehemals erfolgreiche Männer und Frauen, die sich vielleicht durch einen kleinen Fehler im Leben infiziert haben. Manche noch in jungen Jahren, bei denen zu spät die richtige Diagnose gestellt wurde. Andere am ganzen Körper übersät mit Tattoos, wieder andere mit Narben im Gesicht, gezeichnet vom harten Leben auf den Straßen dieser Welt. Jeder trägt die freie Verantwortung für sein Leben. Aber am besten ist es, bis zur Ehe zu warten. Das kann man oft nicht von allein, aber Gott kann einem die Kraft dazu schenken, wenn man Ihn nur darum bittet.

„Ich musste heut um 3 Uhr nachts wegen ihm auf die Polizeistation!“
beschwerte sich meine Chefin. „Es wurde schon wieder ein Motorroller hier in der Gegend gestohlen!“ Der 16-jährige hat sein ganzes Leben schon mit seiner scheinbar vererbten Kleptomanie zu kämpfen gehabt. Doch selten verschwanden größere Dinge wie diese.
Wenige Tage darauf fuhr ich gerade nach einer gefühlten 20-Stunden-Schicht mit dem Rad nach Hause. Da sehe ich doch genau den besagten Jungen, wie er gerade ein frisch gestohlenes Motorrad ausparkt! In absoluter Wut baue ich mich vor ihm auf und schreie ihn an, wo er denn das herhabe, was er sich denn denke und wie er seiner Ziehmutter (also meiner Chefin) so etwas überhaupt antun könne! Er bleibt nur völlig cool und sagt mit einer absoluten Unschuldsmiene, ein Freund habe ihm den Zündschlüssel gegeben. Wahrscheinlich hatte ihn meine Wut verunsichert, denn sonst wäre er sicherlich einfach auf und davon gefahren. Doch so blieb er einfach auf dem Motorrad sitzen, unschlüssig, was denn nun zu tun sei. Natürlich reagierte er auf keine meiner Anweisungen und so rief ich die nächst beste Tante an, um herzukommen und den Fall zu regeln. Die kam tatsächlich auch eine Viertelstunde später angeschlurft, doch leider völlig auf Methadon, der legalen (!) Ausstiegsdroge für Heroinsüchtige. Die Situation, wie sie da so mit nur halb geöffneten Augenlidern lallend auf ihn einzureden versuchte, wogegen er natürlich nur um so selbstsicherer dagegen argumentierte, war so komisch, dass ich mir fast ein Lachen verkneifen musste. Trotz allem ist sie eine echt erfahrene Pädagogin, und es gelang ihr tatsächlich, ihn dazu zu bringen nachzugeben. Leider blieb das nicht seine letzte Straftat und so musste er wenig später für einen Monat ins Jugendgefängnis.

unterwegs: Eingangstor zum Tarokko-Nationalpark
„Schwimmen verboten!“ (Chinesisch: „Bitte nicht mit Wasser spielen!“) sagen die vielen Schilder den schwarzen Strand entlang. Doch wir sind den ganzen Tag für unsere Aids-Awareness-Tour Radgefahren und wollen uns gerne etwas erfrischen. Tatsächlich geht es schon tagelang an der wunderschönen Pazifikküste Taiwans entlang. Immer wieder senden wir Fotos an die Presse und machen Interviewtermine mit verschiedenen Zeitungen aus. Wir wollen damit auf die schlimme Situation unserer Patienten aufmerksam machen und ein Bewusstsein für HIV/Aids in der Gesellschaft wecken.
Es ist schon fast dunkel und die Hitze immer noch erdrückend. „Naja, Schwimmen können wir, und wenn wir zu zweit reingehen, kann ja einer den anderen retten!“ sagen wir uns und waten langsam in den, an diesem Abend sehr stürmischen Stillen Ozean. Schon nach wenigen Metern machen die vielen Steine das Gehen schwer. Das Wasser ist schwarz wie der Sand, der seine Färbung dem Vulkanischen Ursprung der Insel zu verdanken hat. Ein kräftiger Wind weht uns salzig schmeckende Tropfen ins Gesicht. Plötzlich schreit mein Kollege laut auf. Der starke Seegang hatte die Steine unter uns an seine Füße geworfen und er blieb abrupt stehen. Ich will noch nicht aufgeben, schwimme etwas weiter, finde Grund unter mir zum Stehen und rufe ihm zu: „Komm her! Hier drüben kann man Steh…!“ Und in genau diesem Moment sehe ich nur noch aus dem Augenwinkel die riesige Welle, die sich hinter mir aufgebaut hat, meinen Kopf weit überragt und mich einfach mitreißt. Überall fliegen faustgroße Steine wie Geschosse umher. Selbst mein Freund, der ja näher dem Strand stand, wird umgehauen. Als wir wieder Halt finden, humpeln wir so schnell es geht dem rettenden Ufer entgegen. Weitere Steine schlagen uns an Knöchel und Beine. Als wir endlich draußen und in Sicherheit waren, sahen wir uns an und mussten plötzlich lachen, über unsere Dummheit und unseren noch eben viel zu großen jugendlichen Leichtsinn. Mein Freund blutete leicht aus seiner Seite und hatte einige böse Schürfwunden an seinen Beinen. Bei mir hatte es Schienbein und Fuß erwischt, aber uns war klar, dass es auch der Kopf hätte sein können.
Dank sei Gott sind wir trotz unserer Unvorsichtigkeit auch hier wieder vor Schlimmerem bewahrt geblieben!

Am nächsten Tag fiel das Radfahren schwer. Doch wir nahmen uns nur eine kürzere Strecke vor und machten uns auf den Weg. Doch wie es halt so ist, wurde spontan die Route geändert und wir nahmen statt der flachen Küstenstraße den einzigen Weg, der die Bergkette zwischen Ost- und Westtaiwan überquert. Das bedeutet ca. 15km steil bergauf, ohne Pause, ohne flache Strecken und sogar ohne schöne Aussicht, da abwechselnd dichter Regenwald oder dichter Nebel die Sicht verdeckten. Doch was ich hier vom taiwanesischen Volk erlebte, werde ich so schnell nicht vergessen.
Pause am Straßenrand: nette Langustinen-Verkäufer

Die normalen Menschen in den Häusern, die Verkäufer an der Straße, ja oft sogar entgegenkommende Motorrollerfahrer feuerten uns an und hupten uns aufmunternd zu! Selbst als nach einer gefühlten Ewigkeit plötzlich der Asphalt aufhörte und zur aufgerissenen Schotterstraße wurde, waren es sogar die ganz normalen Bauarbeiter, die uns zuriefen durchzuhalten! „Nur noch 1,5km, dann seid ihr oben!!“ rief einer. Aber irgendwie konnte ich das in dem Moment nicht als positive Nachricht auffassen…

Der 4-jährige hat gerade sein kleines Geschäft gemacht und will gleich wieder zu den anderen spielen gehen. Ich kann ihn gerad noch fassen:
Ich: Haaalt! Was macht man denn immer nachdem man auf dem Klo war?
Er: (überlegt kurz)… äh… Spülen! (läuft, und betätigt Spülung; will
rausrennen)
Ich: … und was noch?
Er: hmm… Deckel zu! (läuft und macht ihn zu)
Ich: Ja, aber war da nicht noch etwas?
Er: (guckt nur fragend)
Ich: Was macht man denn jedes Mal, wenn man aufs Klo geht?
Er: Na Pullern!
Ich: Ja, und danach?
Er: Rausgehen!
Ich: … und davor?
Er: Reinkommen!
Ich: (muss lachen), Mensch, Hände waschen! Los jetzt! 